18. April 2018

Immer mit der Ruhe: Was ich von meinem Schweige-Wochenende gelernt habe

Die Nacht war kurz und ich habe unruhig geschlafen. Von links nach rechts wälzend habe ich mich gefühlt wie vor einer Prüfung. Vielleicht ist es das ja auch: Mein erstes kleines Schweige-Retreat.
Geschenkt habe ich es meinem Bruder – mit einem Augenzwinkern, da er der hibbeligste und redseligste Mensch ist, den ich kenne.
Als ich das Geschenk damals überreichte, dachte ich, er denkt, ich spinne. Doch das Gegenteil war der Fall. Pure Freude. Verwunderung meinerseits. Wir Schölers lieben eben kleine Mutproben fernab der Komfortzone. Deshalb war es auch selbstverständlich, dass ich mitkomme.
Geschwister-Quality-Time während des stillen Wochenendes. Doch ganz ohne reden? Wir sehen uns so selten und ich möchte soviel wissen, fragen und erzählen. Eine wahre Herausforderung. Challenge accepted.
Eigentlich habe ich mir den Abreisetag frei gehalten, um mich auf dieses Experiment mental vorzubereiten. Aber wie es so ist: Das Handy klingelt, das Mailfach brummt, dann doch wieder To do’s, die einen in den Arbeitsmodus verfallen lassen. Die Abfahrt verzögert sich etwas. Ich bekomme unmittelbar eine Antwort: Das passt gut – ich brauche auch noch kurz Zeit!
Das ist wieder typisch: Wir rödeln bis zur letzten Sekunde. Business as usual.
Jetzt aber schnell, wir müssen doch entschleunigen. Ein Paradoxon.
Laptop weg, Koffer geschnappt, los geht’s.
Auf der gemeinsamen Fahrt in den tiefen Odenwald daten wir us kurz up, scherzen, lachen. Wie wollen wir das zwei Tage ganz ohne Handy aushalten?
Die Kinnlade meines Bruders fällt runter, er muss sich beherrschen, dass seine Gesichtszüge nicht ganz entgleisen. Damit hat er nicht gerechnet und wirkt kurzzeitig leicht schockiert als ich diese Frage rhetorisch im Nebensatz fallen lasse.
Na klar: Digital detox gehört dazu!
Abschalten, um anzukommen. Bei sich.
Also werden hektisch die letzten Absprachen mit Geschäftspartnern getroffen und Liebesschwüre mit den Liebsten ausgetauscht.
Wir machen ein Abschiedsfoto als ob wir uns ins Nirvana verabschieden.
Auch ich bin freudig-aufgeregt und habe so absolut keine Ahnung, welche Gefühle mich erwarten werden. Was macht mich nervös? Mir selbst zu begegnen? Dem Rauschen im Kopf zu lauschen? Komme gut mit mir aus, aber in solch einer „Extremsituation“? All diese Gedanken, obwohl ich mit mir absolut im Reinen bin. Nun kann ich auch verstehen, dass Leute, die sowieso schon mit sich hadern, keine Stille aushalten können.
Ein riesiges buddhistisches Kloster, was gleichzeitig auch ein Gästehaus ist, empfängt uns im Nirgendwo des Odenwaldes.
Am Empfang bekommen wir den Tagesablauf erklärt: Um 05:30 Uhr läutet der Gong zur Morgenmeditation. Und ich hatte schon Sorgen, dass ich ohne Handy das Frühstück verschlafe. Apropos Handy: Es folgt die feierliche Übergabe. Jeder erhält das Heiligtum des anderen, so dass man auch nicht in Versuchung kommt.
Die nette Empfangsdame schaut kurzzeitig etwas zerknirscht: Es gibt gerade wegen einer großen Gruppe einen Engpass bei den Schweige-Schildchen. Einen Moment Geduld, bitte. Das fällt uns nicht schwer, Zeit spielt ab jetzt eh keine Rolle mehr. Noch dürfen wir also quasseln. Ich frage sie, was solch eine große Gruppe hier macht. „Heute lernen sie sich erstmal kennen.“
Ich bin verwirrt, wie das schweigend funktionieren soll.
Sie schaut mir als Antwort tief in die Augen und lächelt. Ich verstehe.
Die neuen Schildchen kommen. Jetzt wird’s ernst.
Eigentlich nicht, denn erstmal müssen wir lachen. Darf man lachen? Wir wollen mal nicht päpstlicher sein als der Papst und das, obwohl wir im buddhistischen Kloster sind. Ich denke schon wieder zuviel und bin gespannt, ob sich in den nächsten 48 Stunden etwas mehr Ruhe im Kopf einstellt.
Wir steigen schweigend in den Fahrstuhl, drücken uns fest und dann trennen sich erstmal unsere Wege, jeder verschwindet auf sein Zimmer. Wir werden nun jeder für sich etwas denken, laufen, lesen, essen, fühlen…
Ich betrete mein spartanisches Zimmer und räume erstmal meinen Koffer aus, sortiere meine Badsachen, beziehe das Bett, ordne meine Materialien auf dem Schreibtisch. Notizbuch, Blätter, Post its, Stifte, Magazin, Buch. Ich betrachte das ganze Zeug, schaue in den Wald hinaus und muss lächeln: Habe ich etwa Angst vor der Langeweile?
Ab unter die Decke, im Bett sitzend versuche ich anhand des Aufschreibens der bisherigen Eindrücke meine Gedanken zu ordnen.
Nun noch ein wenig die Gegend erkunden, Jacke an, raus spaziert. Keine zwei Minuten nichts getan, schon wieder unterwegs.
Ich habe gerade meine Runde durch das Haus beendet, da bemerke ich, dass die anderen Gäste gebündelt Richtung Speisesaal laufen. Das kann aber nicht sein, denn Essen gibt es erst um 18:00 Uhr. Ich laufe an der Rezeption vorbei und entdecke zufällig eine Uhr: 18:05 Uhr. Wie ist das möglich? Wo ist die Zeit hingeflogen?
Das vegane Abendessen schmeckt doppelt so gut, da wir es gemeinsam in Stille genießen. Wir sitzen am Fenster, der Blick über die Baumwipfel, in denen der Nebel festhängt. Wir gestikulieren zaghaft und die Zettelwirtschaft füllt sich mit Fragen, Insider-Witzen und das lebhafte, wenn auch totenstille Gespräch aus Schrift und Bild wird immer wieder durch Kichern unterbrochen. Das sollte man viel öfter mal ausprobieren, auf Familienfesten, Parties oder mit dem Partner zu Hause. Es ist eine völlig andere Form der Kommunikation.
Anschließend drehen wir eine Runde im Park. Es tröpfelt leicht und dieser graue Tag spiegelt meine Laune wider. Wobei es mir, seitdem ich hier bin, besser geht. Oder eher anders. Wie es mir geht, weiß ich noch gar nicht.
Im liebevoll gestalteten Garten warten überall Dinge darauf, entdeckt zu werden. Klangspiele, bunte Fähnchen, ein Wunschbaum. Die Tropfen hängen in den Bäumen und überall hört man sie auf den nassen Moosboden fallen. Ich gehe zurück auf’s Zimmer, um mein Audio-Aufnahmegerät zu holen. Wieder unten frage ich mich, ob das sein muss und stelle fest, dass ich wohl doch noch nicht ganz angekommen bin. Zu sehr bin ich noch im Außen. Aber ich verurteile mich nicht dafür, sondern gebe mir Zeit. Ich nehme mit voller Freude wie ein kleines Kind die Geräuschkulisse auf.

Die besagten Tropfen, die ein Regenkonzert spielen, zwitschernde Vögel, Autos in der Ferne, knackende Äste, die sich wie ein Lagerfeuer anhören, ein leises Flugzeugrauschen, Kieselsteinrascheln, eine zeternde Amsel im dichten Wald…
Das Aufnahmegerät zeigt knapp 2:30 Minuten und ich habe das Gefühl, eine Ewigkeit dagestanden zu haben. Haben wir verlernt, still zu stehen – und zu sein, so dass uns zwei Minuten so unendlich vorkommen?
Ich bin fasziniert von dem, was ich alles hören kann und mir kommt der Gedanke, dass es wundervoll wäre, jedem Sinn einen ganzen Tag zu widmen. Sinnliche Thementage sozusagen. Diese Idee werde ich auch nochmal umsetzen eines Tages, das kann man ja auch prima in den Alltag integrieren, um sich in Achtsamkeit zu üben.
Ich möchte mir für diese Zeit hier keine Ziele setzen, sondern mich ganz frei und intuitiv treiben lassen.

Am nächsten Morgen werde ich vom schönsten Amselgezwitscher geweckt. Der Himmel verläuft von dunkelblau zu orange, kein Wölkchen am Himmel, das Wetter ist parallel zu meiner Stimmung über Nacht aufgeklart.
Mich zieht es noch in den frühen Morgenstunden nach draußen und so laufe ich vor dem Frühstück eine kleine Runde im Wald. Alleine, früh morgens, einfach so und in aller Ruhe.
Ich muss mich konzentrieren, keine staunenden Laute von mir zu geben, so fasziniert bin ich vom Lichtspiel zwischen den Ästen. Das Gras glitzert, der Farn leuchtet und in dem Moment, wo mich doch tatsächlich ein junges Reh verdattert anschaut und im Dickicht verschwindet, höre ich den Gong, der zum Frühstück ruft. Ich mache auf dem Absatz kehrt und laufe zurück. Mir fällt auf, dass ich verhältnismäßig schnell laufe. Andere Gäste schlendern oder schreiten sogar. Ich bin ja auch noch Anfänger und ich merke allmählich, dass zu einem Stille-Retreat viel mehr gehört als einfach nur den Mund zu halten. Dankbarkeit, Langsamkeit, (Selbst)Fürsorge, Achtsamkeit, Gedanken-Hygiene, Reduktion auf allen Ebenen, alleine sein, atmen, wahrnehmen. Soweit bin ich noch nicht, aber bisher klappt das mit der Ruhe und dem Offline-Sein prima, das Phantom-Vibrieren des Handys hat sich schnell gelegt und deshalb bin ich für den Anfang schon sehr zufrieden mit mir und auch ein wenig stolz.
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass man eine Woche oder gar zehn Tage gut aushalten kann, um einigen Dingen so richtig auf den Grund zu gehen. Das muss man natürlich auch wollen. Aber es ist ratsam, an einer gesunden Beziehung mit sich selbst zu arbeiten, denn in diesem Falle heißt es wirklich: Bis dass der Tod euch scheidet.
Nach dem Frühstück entschließen wir uns, spazieren zu gehen. Zurück in den Wald. Wir lassen uns treiben, schweigen, schwelgen, entdecken, laufen nebeneinander und genießen die wärmer werdenden Sonnenstrahlen, die den Tannengeruch so richtig zur Geltung bringen. An einer Lichtung bleiben wir beide fasziniert stehen: Eine riesige Wiese bahnt den Blick auf ein Panorama, welches ebenso auf einer Tapete abgebildet sein könnte: Ein Tannenwipfelmeer mündet in den blauen Bergen. Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Was ansonsten in den Untiefen von Instagram verschwunden wäre, ist nun in unserem Gedächtnis.
Des restlichen Tag verbringen wir mit lesen, dösen, essen, die Sonne genießen und durch die Gegend wandeln. Das erste Mal barfuß im Gras dieses Jahr.
Glück ist die Zeit, in der man sie vergisst.
Um unsere einsame Zweisamkeit zu feiern, verstoßen wir heimlich, aber gerne gegen die Regeln und bestellen uns in einem kleinen Kiosk mit einem handgeschriebenen Zettel bei einer urigen Dame zwei Apfelweinschorlen. Im Strandkorb sitzend stoßen wir stillschweigend auf alle Worte an, die wir gar nicht erst sprechen müssen, um uns zu verstehen.
Es ist wirklich enorm, wie der Impuls recht schnell weniger wird, alles und jeden kommentieren (und bewerten) zu wollen.
Wort-Ballast, von dem man sich getrost befreien kann. Gedanken, die man ziehen lassen kann, die sich somit automatisch in Luft auflösen. Manches erledigt sich von selbst. Auch die Sorgen.
Versteht mich nicht falsch, ich bin ein großer Freund der klaren Worte. Klare Worte: Das spricht im wahrsten Sinne für sich. Nicht getrübt, sondern reflektiert, überdacht.
Dinge dürfen und müssen manchmal an- und ausgesprochen werden. Aber eben nicht immer. Kurz innezuhalten und zu überlegen, welche Relevanz es wirklich hat, lohnt sich. Das tut gut, einem selbst und den Beteiligten.
Ich stehe noch ganz am Anfang und habe mich oft etwas unbeholfen, fast tollpatschig und manchmal auch fehl am Platz gefühlt. Aber es geht nicht darum, perfekt in Sachen Achtsamkeit zu sein oder auf Anhieb meditieren zu können. Es geht vielmehr um Offenheit, ums Innehalten, die Pausentaste zu drücken, um Neugierde, sich selbst und seine Komfortzone auszutesten, einige neue Gedanken und Eindrücke mit nach Hause zu nehmen und sich zu überlegen, in welcher Form man das für sich Gelernte in den Alltag integrieren möchte.
Ich zum Beispiel habe erkannt: Ich möchte mehr lesen, früh morgens in den Wald, öfter alle Geräte ausschalten und Offline-Tage erleben, ich möchte auch mal schweigend essen, früher schlafen gehen, anderen Menschen auch mal ruhig und sanft und nicht immer impulsiv und extrovertiert begegnen. Ich möchte genau solche Erlebnisse öfter mit meinem Bruder erfahren, mich mit meinen Lieblingsmenschen auch schweigend verstehen, noch mehr staunen, mich noch öfter vegetarisch ernähren. Ich möchte weniger analysieren, kommentieren und interpretieren und mir öfter kleine Momente der absoluten Stille gönnen.
Ich möchte mir mehr Zeit nehmen, um eben diese fliegen zu lassen. Sei es auf meinem Lieblingssessel, im Gras liegend oder auf einem Hochsitz. Innehalten und Gedanken vorbeifliegen lassen, kann man immer und überall.

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